Diesen Ratschlag findet man selten unter den Spielleitertipps, aber ich halte ihn für relativ wichtig: Ich plädiere dafür, dass Spielleiter in den meisten (aber nicht allen) Fällen offen vor den Augen ihrer Spieler würfeln und nur sehr selten verborgen durch ihren Sichtschirm. Natürlich führt eine solche Entscheidung zu Kontrollverlust. Warum sie trotzdem – und auch gerade deshalb – gut ist, erörtere ich in diesem Artikel.
Bequeme Kontrolle
Natürlich ist es angenehmer, hinter dem Sichtschirm zu würfeln: Als SL muss man seine Position nicht verändern, muss nicht um den Schirm herumlangen oder gar aufstehen, und – das Wichtigste – man behält über jedes Würfelergebnis für NSC die volle Kontrolle. Da kann auch mal eine Verteidigung gelingen, die laut Würfel sonst gescheitert wäre, da fällt der Schaden gerade nicht so hoch aus, dass ein Spielercharakter in Lebensgefahr geraten würde, oder da misslingt dem Schwarzmagier auch zum zweiten Mal der vernichtende Versteinerungszauber, der den Endkampf ganz anders hätte ausgehen lassen.
Nachvollziehbar ist dieses Bedürfnis, die Dramaturgie seines Abenteuers im Griff zu behalten, sicherlich auf einer bestimmten Ebene. Als SL möchte man schließlich, dass das Abenteuer bzw. die Spielsituation einerseits spannend und herausfordernd, andererseits aber für die Spieler nicht frustrierend oder gar zum „Gruppenkiller“ wird. Das ist per se auch genau das richtige Ziel – aber m. E. der falsche Weg.
Der Spieler, das psychologische Wesen
Spieler wittern nämlich oft, wenn man als SL die Würfel „dreht“ – selbst, wenn sie es gar nicht darauf anlegen. Schließlich sind wohl die wenigstens SL ausgebildete Doppelagenten oder wenigstens professionelle Pokerspieler. Mit anderen Worten: Man merkt es dem Gebaren des SL oder schlicht der Unwahrscheinlichkeit der präsentierten Ereignisse an, dass da etwas nicht stimmt.
Natürlich könnte man jetzt argumentieren, dass das doch im Endeffekt kein Problem sei. Der SL hat schließlich – wenn er ein vernünftiger SL ist – vor allem den Spielspaß aller Beteiligten im Sinn. Wenn er dabei nun ein bisschen schummelt, ist das sicherlich zum Besten des Spielerlebnisses. Leider geht diese Rechnung so nicht auf.
Der alleinige Verdacht nämlich, dass hinterm Sichtschirm gemogelt wird, nagt in jedem Fall am Vertrauensverhältnis zwischen dem SL und den Spielern – auch wenn diese „Mogelei“ mit den besten Absichten geschieht. Selbst die wohlmeinendsten Spieler werden sich irgendwann dabei ertappen, skeptisch oder gar zynisch zu werden, wenn der SL zum wiederholten Mal unwahrscheinlich wirkende Probenergebnisse oder Schadensmengen mitteilt. Das kritische Denkvermögen ist nun mal eine höchstmenschliche Eigenschaft und kann nicht einfach so abgestellt werden. Selbst im wünschenswerten Fall also, in dem SL und Spieler ein kooperierendes – und kein konkurrierendes – Spiel betreiben, kann verborgenes Würfeln zu unschönen Gefühlen des Misstrauens und der Ungleichbehandlung führen. Es entsteht Frust – und Frust am Spieltisch sollte unbedingt kleingehalten und wo immer möglich vollständig vermieden werden.
Unabhängig davon, ob der SL nun die Verborgenheit durch seinen Sichtschirm ausnutzen würde oder nicht – offenes Würfeln hat auch eine direktere positive Auswirkung auf das Erlebnis der Spieler: Durch die ganz eindeutig neutrale Instanz, die offene Würfelergebnisse darstellen, lässt sich ein für den eigenen Spielercharakter ungünstiges Erlebnis besser hinnehmen. Im Kopf eines Spielers, dessen SL offen den hohen Schadenswert eines Axttreffers auswürfelt, kommen Gedanken wie „warum tut der SL ausgerechnet mir das an“ nicht vor – denn der SL selbst hat ja ganz offensichtlich die Kontrolle an den unbestechlichen Zufall übertragen, der auf der einen Seite zwar eiskalt, auf der anderen Seite aber auch ultimativ fair deutlich macht, dass dieser Axthieb wohl die Erschaffung eines neuen Charakters nötig macht…
Sowohl für die Spielercharaktere positive als auch negative Ereignisse werden ohne die unangenehme psychologische Komponente wahrgenommen, dass der SL ja vielleicht doch etwas „dran gedreht“ hat, dass er vielleicht einen Charakter stärker in Schutz nimmt oder es gar auf einen anderen besonders abgesehen hat. Die Wahrnehmung ist nicht so emotional aufgeladen, und es fällt leichter, Ergebnisse zu akzeptieren. Man könnte sogar den angenehmen Nebeneffekt attestieren, dass diese Form der Spielerwahrnehmung besser eine realistische Wahrnehmung der Ereignisse durch die Charaktere simuliert.
Der konservative Tunnelblick
Unabhängig von der psychologischen Komponente ist da der Aspekt der längerfristigen Auswirkungen von Würfelergebnissen, die bei „gedrehten“ Resultaten aus eher kurzfristigen Absichten heraus keine Berücksichtigung finden. Ist der SL in eine dramatische Spielsituation – z. B. einen Kampf – investiert, ist es ihm kaum möglich abzuschätzen, welches längerfristige Ergebnis die Manipulation von Zufallsergebnissen haben kann. Vielleicht verhindert man durch einen „erschummelten“ Misserfolg beim Monsterangriff, dass der Heiler der Gruppe nach dem Kampf bei der Rettung seiner schwer verletzten Gefährten brillieren kann; vielleicht führt der „herbeigedrehte“ Erfolg bei der Wahrnehmungs-Probe des Endgegners dazu, dass der Dieb der Spielegruppe gänzlich das Vertrauen in seine Schleichfähigkeiten verliert; vielleicht schließlich führt ein „zurechtgemogelter“ Sieg der Spielercharaktere über ihre eigentlich überlegenen Kontrahenten, dass die Spieler entweder auch einmal die Flucht als probates Mittel in Erwägung ziehen oder dass sie zumindest beim nächsten Mal vorsichtiger und geschickter zu Werke gehen.
Bei dem unweigerlichen Tunnelblick, den man als SL in dramatischen und hitzigen Situationen oft hat, fallen eben hauptsächlich die kurzfristigen Auswirkungen von Zufallsentscheidungen auf. So etwas wie: „Wenn der Ork jetzt trifft, liegt der Kleriker am Boden, und niemand kann die Gruppe mehr heilen. Das muss ich verhindern.“ Dass es auch noch andere Alternativen des Überlebens oder sogar Bestehens gibt, wird übersehen. Die besten Absichten können sich also in Folge in suboptimale Spielsituationen verkehren, wohingegen ein unmanipuliertes Ergebnis vielleicht progressive, interessante und letzendlich befriediegende Auswirkungen gehabt hätte.
Der Zufall als Geschichtenerzähler
Damit kommen wir dann zum letzten – aber keineswegs unwichtigen – Effekt des offenen Würfelns: Durch die abgegebene Kontrolle offener und unbeeinflussbarer Würfelergebnisse stärkt der SL einen oft übersehenen oder unterschätzten Co-Autor, der oft unerwartete und unverbrauchte Impulse bringt: den Zufall. Dieser kann Situationen hervorbringen, die ein um Dramaturgie und die Stabilität der Heldengruppe besorgter SL nicht einplanen kann.
Natürlich kann der Zufall auch dann eine Rolle spielen, wenn der SL alle Würfe in der Privatsphäre hinter seinem Sichtschirm ablegt – aber: Die Versuchung ist dann einfach immer da, Ergebnisse doch zu manipulieren, sie künstlich zu verschärfen oder abzumildern. Und aus oben genannten Gründen geschieht es allzu leicht, dass man auch als eigentlich prinzipientreuer SL dieser Versuchung erliegt.
Finden die meisten Würfe aber offen statt, beugt man dieser Gefahr vor, dem Abenteuer im Zweifelsfall einen eher konservativen Verlauf zu geben. Man gestattet es dem Zufall, auch große und einschneidende Entscheidungen zu treffen und öffnet so die Tore für mehr Kreativität und mehr Realismus im Spielerlebnis.
Wann ist verdecktes Würfeln sinnvoller?
Natürlich gibt es trotz allem Situationen, in denen verdecktes Würfeln unverzichtbar – oder vielleicht ein nötiges Übel – ist. Das ist genau dann der Fall, wenn die Kenntnis eines Würfelergebnisses – bzw. eines Erfolgs oder Misserfolgs – den Spielern zuviel über die jeweilige Situation verraten oder vorwegnehmen würde. Ein gutes Beispiel scheint mir die heimliche Verfolgung der Heldengruppe durch einen oder mehrere NSC zu sein. Man stelle sich eine Gruppe Waldelfen vor, welche die Spielercharaktere im Auge behalten wollen, während sie durch ihr Territorium ziehen. Es ist durchaus sinnvoll, dass der SL in der Situation die Heimlichkeits-Proben hinter seinem Sichtschirm ablegt.
Generell empfehle ich aber, dass der SL sich immer fragt, ob er einen Würfelwurf auch offen durchführen kann – und sich im Zweifelsfall dafür entscheidet. Es kann das Spiel für alle Beteiligten (auch für den SL selbst) interessanter machen und Misstrauen und Frustration vorbeugen.
Bleibt noch die Frage: Was sind Eure Erfahrungen mit offenem bzw. verdecktem Würfeln, liebe Leser? Schreibt es in die Kommentare – ich bin gespannt.
„Als SL möchte man schließlich, dass das Abenteuer bzw. die Spielsituation einerseits spannend und herausfordernd […] wird.“
Ein für mich wichtiger Aspekt, den du nicht erwähnst:
Auf lange Sicht gibt es ohne die Möglichkeit zu scheitern keine echten Herausforderungen und Erfolge, und ohne echte Gefahr – weil der würfeldrehende SL keinen SC sterben lässt – auch keine echte Spannung.
Man vergleiche (manche) Animes und (viele) westliche Fernsehserien.
Definitiv ist das auch ein sehr wichtiger Punkt! Wenn Spieler wissen, dass wirklich alles passieren kann und auch heikle Situationen ohne Netz und doppelten Boden ablaufen, fühlen sich bewältigte Herausforderungen wesentlich wertvoller an.
Ich finde den Vergleich mit Animes und westlichen Serien sehr interessant, bin aber nicht ganz sicher, ob ich den richtig verstehe. Magst Du den noch etwas näher erläutern?
Schöner Tipp und ja, auch ich gehöre zu den Offenwürflern. Den -Nachteil über den Schirm zu langen gleiche ich dadurch aus, keinen zu benutzen … Verdecktes Würfeln versuch ich zu minimieren, bei Wahrnehmungsproben gibt es also immer eine Information, möglicherweise nur nicht die entscheidene …
Find ich gut. Ich kann mich an kein Schummelabenteuer erinnern, dass gut war. Gab’s bei mir zum Glück aber auch selten. Ich verzichte meistens sogar ganz auf den Schirm, wenn ich ihn nicht als Regelreferenz oder sowas brauche. Wenn meine Notizen überhaupt Hinweise für die Spieler enthalten und sich ein Spieler unbedingt um den Spaß bringen will, soll er rein gucken. Aber eigentlich sind wir mittlerweile alle erwachsen genug (jedenfalls in meinem Alter 😉 ).
Einer meiner Lieblingsposts zu diesem Thema: Fudging is bad form:
(Leider nur noch über die waybackmachine): https://web.archive.org/web/20160720234536/http://www.room209gaming.com/2015/01/fudging-bad-form/
Cooler Artikel, der mir in eigentlich allen Punkten aus der Seele spricht. Danke für den Hinweis!
Viel zu selten wird betont, dass Würfel bei Rollenspielen immer auch Geschichtenerzähler sind, die durch ihre Zufälligkeit interessante und unverbrauchte Impulse ins Spiel bringen können. „That’s why you shouldn’t fudge. Not even once.“ 🙂
Freut mich, dass es dich freut 🙂
Als Zusatz: Ja, der Würfel als Geschichtenerzähler war, soweit ich das nachvollziehen kann ein „rallying cry“ in der „frühen“ Old School Renaissance, veranschaulicht durch diesen Post: https://grognardia.blogspot.com/2008/04/on-oracular-power-of-dice.html
Ich hab irgendwo noch weitere Links zum Thema fudging rumfliegen, müsste die mal raussuchen…
Alle hier genannten Argumente erscheinen mir sinnvoll und nachvollziehbar. Ich persönlich Gewichte den letzten Punkt allerdings etwas anders. In vielen Spielen erhalte ich als Spieler Informationen aus dem Würfelwurf, über die meine Figur nicht verfügt. Und über die ich auch als Spieler gar nicht verfügen möchte. Diese Informationsgewinnung über die Metaebene empfinde ich als störend. Sowohl aus der Perspektive des Spielers als auch der des Spielleiters.
Grundsätzlich muss ich allerdings sagen, dass die Dogmatik der Frage mich immer wieder vor Probleme stellt. Ich wüsste rückblickend gar nicht zu sagen ob ich in einer Sitzung als Spielleiter offen gewürfelt habe oder nicht. Würfelergebnisse meiner Mitspieler verfolge ich üblicherweise gar nicht. Es sei denn die gesamte Dramaturgie konzentriert sich gerade auf diesen spezifischen Wurf oder ich weiß, dass ein Mitspieler wahrscheinlich Hilfe bei der Interpretation der Ergebnisse braucht. So gesehen würfeln bei uns am Tisch alle Mitspieler gelegentlich verdeckt. Und das obwohl nach Aussage einiger Mitspieler durchaus der eine oder andere im Verdacht steht gelegentlich zu schummeln. Ich sehe es einfach nicht als so schwerwiegend an dass ich deswegen ein Fass aufmachen würde. In sofern ist die Kardinalfrage „offen oder verdeckt“ für mich persönlich einfach weniger wichtig.